Der menschlichen Schwerhörigkeit auf der Spur:
Göttinger Hörforscher im Sonderforschungsbereich 889 identifizieren Ursache menschlicher Schwerhörigkeit. Zwei Publikationen in der Fachzeitschrift „EMBO Journal“.
(umg) Etwa 360 Millionen Menschen leiden nach Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) an Schwerhörigkeit. Noch ist zu wenig über die Funktion des Innenohrs bekannt, um eine Therapie zur Wiederherstellung des Hörvermögens zu entwickeln.
Die Ursachen für eine seltene erbliche menschliche Schwerhörigkeit haben jetzt Göttinger Hörforscher aufgedeckt. Menschen mit dieser ungewöhnlichen Hörstörung können zwar leise Töne fast genauso gut wahrnehmen wie Normalhörende, aber gesprochene Sprache kaum verstehen. Gleichbleibend laute Töne nehmen sie als leiser werdende Töne war. Das Hören ist „müde“.
Ursächlich für eine solche Hörstörung ist nach neuen Erkenntnissen aus der Göttinger Hörforschung eine beeinträchtigte Signalübertragung von den Sinneszellen des Innenohrs auf den Hörnerv. Die Rolle eines Proteins bei diesem wichtigen Signalweg zum Hören haben die Göttinger Wissenschaftler in zwei Studien mit unterschiedlichen Fragestellungen genauer untersucht. Sie fanden heraus: Wenn das Protein „Otoferlin“ selbst verändert ist oder der Einbau des Proteins in die Zellmembran von Sinneszellen gestört ist, dann gelingt Hören nicht mehr gut. Eine verminderte Menge von Otoferlin in der Zellmembran von Sinneszellen führt offensichtlich dazu, dass die Signalübertragung von Sinneszellen des Innenohrs auf den Hörnerv zu schnell ermüdet.
„Wir verstehen jetzt, warum normale Hörgeräte bei diesen Patienten keine Verbesserung für das Verstehen von Sprache bringen. Und wir haben Ideen, wie man Hörhilfen speziell für diesen Fall entwickeln könnte“, sagt Dr. Nicola Strenzke, Leiterin der Arbeitsgruppe für auditorische Systemphysiologie in der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), die Erst-Autorin einer der Publikationen. „Je besser wir die Signalübertragung von der Sinneszelle auf die Nervenzelle verstehen, desto näher kommen wir einer Gentherapie bei bestimmten Hörproblemen“, ergänzt Dr. Ellen Reisinger, Leiterin der Arbeitsgruppe für Molekularbiologie Cochleärer Neurotransmission der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der UMG, Senior-Autorin einer der Publikationen.
Die Forschungserkenntnisse sind das Ergebnis zweier Kooperationsprojekte im Sonderforschungsbereich (SFB) 889 „Zelluläre Mechanismen der Sensorischen Verarbeitung“, von Arbeitsgruppen der UMG mit Gruppen der Universität Göttingen, der Max-Planck-Institute für Experimentelle Medizin und für Biophysikalische Chemie in Göttingen, weiteren Arbeitsgruppen am Göttingen Campus sowie Wissenschaftlern aus den USA, Spanien und Italien. Publiziert wurden die Forschungsergebnisse in zwei Artikeln in der renommierten Fachzeitschrift EMBO Journal.
Originalveröffentlichungen:
Tryptophan‐rich basic protein (WRB) mediates insertion of the tail‐anchored protein otoferlin and is required for hair cell exocytosis and hearing. Christian Vogl, Iliana Panou, Gulnara Yamanbaeva, Carolin Wichmann, Sara J Mangosing, Fabio Vilardi, Artur A Indzhykulian, Tina Pangršič, Rosamaria Santarelli, Montserrat Rodriguez‐Ballesteros, Thomas Weber, Sangyong Jung, Elena Cardenas, Xudong Wu, Sonja M Wojcik, Kelvin Y Kwan, Ignacio del Castillo, Blanche Schwappach, Nicola Strenzke, David P Corey, Shuh‐Yow Lin, Tobias Moser. EMBO Journal (2016) Dec 1;35(23):2536-2552
Hair cell synaptic dysfunction, auditory fatigue and thermal sensitivity in otoferlin Ile515Thr mutants. Nicola Strenzke, Rituparna Chakrabarti, Hanan Al-Moyed, Alexandra Müller, Gerhard Hoch, Tina Pangrsic, Gulnara Yamanbaeva, Christof Lenz, Kuan-Ting Pan, Elisabeth Auge, Ruth Geiss-Friedlander, Henning Urlaub, Nils Brose, Carolin Wichmann, Ellen Reisinger (2016). EMBO Journal; 2016 Dec 1;35(23):2519-2535
Die für das Hören wichtige Signalübertragung findet an spezialisierten Verbindungstellen zwischen Nervenzellen, den sogenannten Synapsen, statt, die das Protein Otoferlin benötigen. Bei der synaptischen Signalübertragung verschmelzen hunderte Botenstoffbläschen pro Sekunde mit der Zellmembran. Dies erfordert die effiziente Bereitstellung, Fusion und Regenerierung von Botenstoffbläschen.
Für ihre Untersuchungen in den beiden Studien nutzten die Göttinger Wissenschaftler verschiedene genetische Veränderungen in Mäusen, um einer synaptischen Schwerhörigkeit („auditorische Synaptopathie“) auf die Spur zu kommen. In einem Fall war ein Baustein in Otoferlin verändert worden, im anderen Fall wurde der Einbau von Otoferlin in die Zellmembran gestört. In beiden Studien zeigte sich, dass die verminderte Menge von Otoferlin in der Zellmembran von Sinneszellen dazu führt, dass die synaptische Übertragung zu schnell ermüdet.
FORSCHUNGSERGEBNISSE IM DETAIL
Was passiert eigentlich, wenn ein erst kürzlich entdeckter molekularer Mechanismus, der TRC40-Pathway, gestört ist? Mit dieser Frage befasste sich ein Forscherteam unter der Leitung von Prof. Dr. Tobias Moser, Sprecher des SFB 889 und Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen. Der Mechanismus vermittelt die Aufnahme einer Gruppe von Proteinen, zu der auch Otoferlin gehört, in die Membran im Inneren der Zelle. Die Störung des Pathways führte in der Maus zu einer auditorischen Synaptopathie, das Hören ermüdete.
„Der TRC40 Pathway der Membranverankerung von Proteinen ist ein Mechanismus von genereller Bedeutung für Zellen. Wir waren primär an seiner Rolle in den Haarzellen des Innenohrs interessiert. Zusammen mit ausgewiesenen Experten für diesen Mechanismus, Prof. Dr. Blanche Schwappach und ihrem Mitarbeiter Dr. Fabio Vilardi aus dem Institut für Molekularbiologie der UMG, konnten wir unsere spezielle Frage klären. Wir wissen nun, dass der TRC40 Pathway auch von Otoferlin genutzt wird und bei genetischen Veränderungen von Otoferlin weniger effizient funktioniert“, sagt Prof. Tobias Moser. „Diese Studie ist ein gutes Beispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit am Göttingen Campus.“
Ausgangspunkt der zweiten Studie waren Patienten, die zusätzlich zur Hörermüdung ein weiteres außergewöhnliches Problem haben: Schon bei geringfügiger Erhöhung der Körpertemperatur, z.B. beim Sport im Sommer oder bei leichtem Fieber, werden sie vorübergehend vollständig taub. Um die Ursache dieses Hörproblems herauszufinden, veränderten die Forscher um Dr. Nicola Strenzke und Dr. Ellen Reisinger das Protein Otoferlin in Mäusen mit Hilfe von Gentechnik. Genauso wie bei den Patienten mit der außergewöhnlichen Taubheit bei Wärme beobachtet, wurde eine von knapp 2.000 Aminosäuren des Proteins Otoferlin durch eine andere ersetzt.
Überraschenderweise werden die gentechnisch veränderten Mäuse bei Temperaturerhöhung jedoch nicht taub. Den Wissenschaftlern fiel auf, dass dem Maus-Otoferlin 20 Aminosäuren gegenüber menschlichem Otoferlin fehlen. Ergänzten sie diese Aminosäuren im Maus-Otoferlin mit der Punktmutation, befindet sich praktisch kein Otoferlin mehr an der Zellmembran. Dies erklärt, warum Menschen mit dieser Otoferlin-Veränderung bei erhöhter Temperatur taub werden, die Mäuse jedoch nicht.
Auch die Ursache für die Hörermüdung der Patienten konnten die Forscher durch ihre Studie finden: Die Mutation stört die Regeneration von Bläschen an der Nervenzelle, die einen Signalbotenstoff enthalten. Bei Stille können diese Bläschen in ausreichender Zahl nachgeliefert werden, jedoch nicht bei anhaltenden Tönen. Deshalb nimmt die Aktivität im Hörnerv stark ab und Patienten nehmen gleichbleibend laute Töne als leiser werdend wahr. Die gestörte Bläschenregeneration ist zudem der Grund, warum die Betroffenen ein sehr schlechtes Sprachverständnis haben.
Abbildung: Das Protein Otoferlin in den Sinneszellen des Innenohrs (links, in grün), mit Immunhistochemie dargestellt. Mitte: Auch das Protein Vglut3 (mittleres Bild, magenta), welches auf synaptischen Bläschen sitzt, wurde mit derselben Technik sichtbar gemacht. Eine Bändersynapse besteht aus einer dichten, aus Proteinen bestehenden Struktur (rechts, rot), die von synaptischen Bläschen (grün und gelb) umgeben ist. Diese Bläschen verschmelzen mit der Zellmembran (blau) und geben so Informationen über ein Geräusch an den Hörnerv weiter. Diese Bändersynapse wurde durch eine spezielle Elektronenmikroskopie (Tomographie) sichtbar gemacht.
Abbildungen aus Strenzke et al., EMBO J 2016.
Bild-Quelle: Strenzke et al., EMBO J 2016.
Quelle: Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität