Barrierefreiheit fördert Teilhabe – doch was genau heißt barrierefrei eigentlich bei der Nutzung von Sporthallen, Schwimmbädern und Fitnessstudios? Forschende der Bergischen Universität suchen auf diese Frage Antworten. Sie wollen damit die Basis für eine Zertifizierung von Sportstätten legen.
Es gibt diverse Leitfäden und Praxishilfen, die Informationen zur Barrierefreiheit von Sportstätten beinhalten. Ihr Ziel: Grundvoraussetzungen für die selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am Sport zu schaffen. Dr. Jonas Wibowo von der Bergischen Universität und sein Team aus der Sportpädagogik haben sie gesammelt und zur Grundlage ihrer Forschung gemacht (siehe auch Infokasten „Wichtige Vorarbeit“).
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Das Problem: Die Fülle der vorhandenen Kriterien in aktuellen Leitfäden ist in der Praxis kaum umsetzbar. Das wiederum stellt die kommunale Sport- und Sportstättenentwicklung vor Herausforderungen, unabhängig davon, ob es um Sanierungen oder die Planung von Neubauten geht. „Bei der Bewertung, ob eine Sportstätte mit ihren Räumlichkeiten barrierefrei ist, stoßen alle Beteiligten aktuell an Grenzen. Dies liegt unter anderem daran, dass die Bedarfe der verschiedenen Betroffenengruppen sehr unterschiedlich sind. Daten über die Gegebenheiten vor Ort sind nicht systematisch erfasst und es gibt auch nur wenige hilfreiche Informationen, die den Nutzenden der Sportstätten Auskünfte über den Status der Barrierefreiheit geben“, erklärt Wibowo. Darüber hinaus lägen keine empirischen Untersuchungen darüber vor, welche Menschen mit Beeinträchtigungen welche Barrieren vor Ort tatsächlich wahrnehmen.Gemeinsam mit seinem Praxispartner beratungsPUNKTsport nimmt sich das Team um den Sportwissenschaftler im Forschungsprojekt „ZertSportstätten“ des Themas an: Gesamtziel des Vorhabens ist die Entwicklung eines Informationssystems zur Zertifizierung räumlicher Barrierefreiheit von Sportstätten und dessen Prüfung durch die Deutsche Akkreditierungsstelle (DAkkS).
Komplexe Ausgangslage
Im parallel laufenden Projekt „NoBars“ haben die Forschenden bereits acht sogenannte Raumeigenschaften definiert, für die sie in Sportstätten der Stadt Wuppertal derzeit Messdaten sammeln: „Beschilderung“, „Erreichbarkeit“, „Kontraste“, „Klimatik“, „Licht und Schatten“, „(Un-)Ordnung“, „Bedienbarkeit“ und „Akustik“. Schnell wird deutlich: Die Bedürfnisse betroffener Personen sind sehr heterogen. In ihrer Forschung unterscheiden die Sportwissenschaftler*innen daher auch verschiedene Beeinträchtigungsformen. Für ihr System betrachten sie die Bereiche Sehen, Hören, Bewegung und Kognition. Eine Vergleichsgruppe bilden Personen ohne Beeinträchtigung. Zusätzlich geht es darum, die für jede Raumeigenschaft und Beeinträchtigungsform wichtigsten Informationen zu definieren und sie aussagekräftig zu gestalten.
Umsetzung in der Praxis
Eine Vision des aktuellen Projekts: „Wenn zukünftig eine Hallensanierung ansteht, könnten beispielsweise Planende in den Kommunen unser übersichtliches Informationssystem zur Hand nehmen und darin die wissenschaftlich überprüften Kriterien einsehen, die hinsichtlich räumlicher Barrierefreiheit Berücksichtigung finden sollten“, erklärt Wibowo. Das Projekt verfolgt in dem Zuge noch ein höheres Ziel: In Zusammenarbeit mit der Deutschen Akkreditierungsstelle will die Forschungsgruppe das Informationssystem so ausarbeiten, dass es in einem Zertifikat für Sportstätten münden kann. Wie das letztlich aussieht, entwickelt das Team ergebnisoffen: „Vorstellbar ist zum Beispiel, dass am Ende ein gestuftes System steht – ähnlich wie beim Nutri-Score, die Ampel zur Bewertung von Lebensmitteln – mit dem wir feststellen können, wie viel Prozent der Kriterien eine Sportstätte für die jeweilige Raumeigenschaft erfüllt“, fasst der Wissenschaftler zusammen.
Innovativ ist die Zusammenfassung der Informationen in den genannten Raumeigenschaften: In vergleichbaren Systemen stehen vor allem die Personengruppen im Vordergrund. „Da die so heterogen in ihren Bedürfnissen sind, ist es für die Nutzenden jedoch manchmal schwierig, eine Sportstätte anhand einer Aussage wie ,Ist barrierefrei für Personen mit Beeinträchtigungen des Hörens‘ zu bewerten“, erklärt Wibowo. Aussagen nach Raumeigenschaften, z. B. „Ist barrierefrei in Bezug auf Beschilderung“ (Kontraste, Akustik, etc.), ließen deutlich differenziertere Urteile nach persönlichen Bedürfnissen zu.
Trotz knapper Kassen: Anpassungen sind möglich
Vor dem Hintergrund, dass Sport längst nicht nur eine Freizeitbeschäftigung ist, sondern Begegnungen schafft, die Gesellschaft vernetzt und Menschen unabhängig von Alter, sozialer Schicht und Kultur sowie mit und ohne Behinderung zusammenbringt, braucht es intakte Sportinfrastrukturen. Auch für die Förderung des Spitzensports, z. B. in Vorbereitung auf die paralympischen Spiele, die jetzt in Paris starten. Viele Sportstätten sind jedoch auf dem Stand von vor 50 Jahren – marode, sanierungsbedürftig und nicht barrierefrei. Knappe Kassen von Kommunen verhindern vielerorts die überfälligen Modernisierungsmaßnahmen. „Mit unserer Forschung wollen wir auch zeigen, dass wichtige Anpassungen kostengünstig umgesetzt werden können“, so Wibowo, der um den Sanierungsstau weiß. Manche Raumeigenschaften, wie Beschilderung und Kontraste, könnten leicht und sogar in Eigenregie verbessert werden. Doch nicht nur die Stadt mit ihren Sportstätten ist eine Zielgruppe für das Vorhaben. Erste Gespräche deuten großes Interesse aufseiten von Fitnessstudiobetreibenden an. „Gerade auf der Ebene des Individualsports kann eine solche Zertifizierung zukünftig eine wertvolle Serviceleistung für die Kund*innen darstellen“, blickt Wibowo voraus.Das Projekt „ZertSportstätten“ wird an der BUW mit rund 177.400 Euro durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie DATI-Pilot gefördert.
InfoI: Wichtige Vorarbeit für das Zertifikat
Basis für das Informationssystem, das die Wuppertaler Sportwissenschaftler*innen im Projekt „ZertSportstätten“ entwickeln wollen, sind die Erkenntnisse aus einer Analyse der zahlreichen zum Thema vorliegenden Leitfäden, Praxishilfen und DIN-Normen. Aus den 1.549 gesammelten Kriterien haben sie die herausgefiltert, die sich standardisiert messen lassen. Neben der Flurbreite zählt dazu beispielsweise auch, ob die Raumtemperatur regulierbar ist, ob die Farben von Türen und Wänden genug Kontrast aufweisen oder ob Hintergrundgeräusche wie Autobahnen in der Nähe von Sportplätzen oder das Summen von Klimageräten in der Halle das Hören stören. Diese überprüfen sie derzeit im parallel laufenden und vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft geförderten Projekt „NoBars“ vor Ort in städtischen Sporthallen, Sportplätzen und Schwimmbädern. So sammeln sie standardisierte Daten über die jeweilige Stätte.
„Aktuell sind es natürlich zu viele Kriterien, um sie nutzer*innenfreundlich, sei es für die Sportstättenplanung oder die Besuchenden und Sporttreibenden, aufzubereiten“, so Wibowo. Die zentrale Frage für die Forschenden lautet daher: Welche Informationen benötigen Menschen tatsächlich für ihre Entscheidung, ob sie eine Sportstätte nutzen können oder nicht? Um sie zu beantworten, sind Wibowo und sein Team bei der Vor-Ort-Begehung nicht allein. Begleitet werden sie von Personen mit jeweils unterschiedlichen Beeinträchtigungen. Wibowo: „Das ist wichtig, damit wir erfahren, welche Kriterien wir zukünftig in der Bewertung von Barrierefreiheit, also auch für die Entwicklung eines Zertifikats, priorisieren müssen und welche eher vernachlässigt werden können.“ Wahrscheinlich ist beispielsweise, dass zwei Garderobenhaken auf unterschiedlicher Höhe weniger wichtig sind, als die Möglichkeit, Umkleiden und Sportflächen zunächst zu finden und dann auch zu erreichen.
Info: Aufruf zur Teilnahme bei Begehungen
Für das Projekt NoBars werden aktuell noch Ko-Forschende für die Begehung von Sportstätten gesucht. Personen mit Beeinträchtigungen des Sehens, Hörens, Bewegens oder kognitiven Beeinträchtigungen begehen dabei eine Sportstätte und schildern, welche räumlichen Eigenschaften sie als hinderlich oder förderlich wahrnehmen. Die Datenerhebung findet im Raum Wuppertal statt. Wenden Sie sich bei Interesse oder Rückfragen gerne an Ulrike Grünzel-Spindelmann aus dem NoBars-Projektteam (
Quelle: Bergische Universität Wuppertal