Prof. Dr. Jutta Engel (l.) und PD Dr. Simone Kurt. Thorsten Mohr Universität des Saarlandes/Thorsten MohrStudie zeigt möglichen Zusammenhang zwischen genetisch bedingter Störung des Gehörs und Autismus
Eine Ursache für eine genetische Autismus-Spektrum-Störung liegt im Defekt eines Gens namens Cacna2d3. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten des Saarlandes und Ulm konnten nun nachweisen, dass für die Kommunikation wichtige Schallsignale, die vom Innenohr in elektrische Signale gewandelt werden und von dort über den Hörnerv ins Gehirn weitergeleitet werden, nicht mehr richtig verarbeitet werden können, wenn dieses Gen defekt ist. Verliert Cacna2d3 seine Funktion, könnten daher bei autistischen Patienten ähnliche Verarbeitungsstörungen auftreten, wie sie in den Experimenten der Forscher messbar waren. Die Studie wurde im Fachjournal „eNeuro“ veröffentlicht.
Bild: Prof. Dr. Jutta Engel (l.) und PD Dr. Simone Kurt. Universität des Saarlandes/Thorsten Mohr

 

Autismus-Spektrum-Störungen sind tiefgreifende Entwicklungsstörungen mit großer Bandbreite; Menschen mit einer solchen Störung haben insbesondere ein reduziertes Interesse an sozialen Kontakten und ein geringeres Verständnis sozialer Situationen. Beim frühkindlichen Autismus sind häufig die Sprachentwicklung und der richtige Sprachgebrauch betroffen. Die Ursachen für Autismus-Spektrum-Erkrankungen sind vielfältig und bislang unzureichend verstanden. Allerdings steigt das Wissen über genetische Defekte als Ursache für Autismus-Spektrum-Störungen in jüngerer Zeit rasant an. So ist seit einigen Jahren bekannt, dass die Störung eines bestimmten Gens, Cacna2d3, das einen Bestandteil eines Calciumkanals kodiert, zu schweren Autismus-Störungen führt.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität des Saarlandes konnten in einer nun veröffentlichten Studie zeigen, dass der Verlust der Funktion des Gens Cacna2d3 bei Mäusen zu einer gestörten Verarbeitung beim Hören führt. „Die Defizite führen dazu, dass Mäuse bestimmte wichtige akustische Signale nicht differenzieren können“, erklärt Jutta Engel, Professorin für Biophysik. Arbeitsgruppenleiterin und Neurowissenschaftlerin PD Dr. Simone Kurt aus ihrer Abteilung leitete die Studie. Gerhard Bracic, Ingenieur am Institut für Biophysik, war federführend bei der Auswertung der Daten.

In den Experimenten haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Signalverarbeitung in der Hörbahn von Mäusen untersucht, indem sie während des Hörvorgangs die Aktivität des Gehirns aufnahmen. In einem bestimmten Bereich, dem so genannten Colliculus inferior (IC), der auf der Verarbeitungsstrecke zwischen Innenohr und Hörrinde liegt, haben die Forscher messen können, wie die Nervenzellen die elektrischen Signale verarbeiten, die durch bestimmte Schallsignale ausgelöst werden. In der Cochlea, der Gehörschnecke, werden die Schallwellen in elektrische Signale umgewandelt, die dann auf verschiedenen Stationen der Hörbahn weiterverarbeitet und zum auditorischen Cortex, einem Areal der Großhirnrinde, weitergeleitet werden, der das Gehörte wahrnimmt.

Viele der IC-Neurone sind auf die Verarbeitung von Kommunikationslauten der Tiere (oder von Sprache beim Menschen) spezialisiert. Diese Kommunikationslaute kann man durch so genannte amplitudenmodulierte Schallsignale simulieren. Die Experimentatorinnen Katrin Hegmann und Simone Kurt haben Mäusen mit und ohne Cacna2d3-Gendefekt solche amplitudenmodulierten Schallsignale mit Modulationsfrequenzen von 10 bis 200 Hertz vorgespielt und die resultierenden elektrischen Antworten der Nervenzellen gemessen. Diese akustischen Signale, die mit einer an- und abschwellenden Intensität (Amplitude), aber gleichbleibender Trägerfrequenz das Innenohr anregten, konnten ab einer Modulationsfrequenz von 70 Hertz von den Neuronen der Mäuse mit dem Cacna2d3-Gendefekt im Vergleich zu den gesunden Mäusen nicht mehr sinnvoll verarbeitet werden.

„Wir konnten in der jetzigen Arbeit erstmals messen, dass diese akustischen Signale bei den genetisch veränderten Mäusen von den IC-Neuronen nicht mehr korrekt extrahiert werden können“, sagt Privatdozentin Dr. Simone Kurt. Dabei gilt: „Je schneller die zeitliche Änderung des Schallsignals, desto schlechter konnte dieses verarbeitet werden“, erklärt die Neurowissenschaftlerin. „Die reduzierte Verarbeitungsleistung der IC-Neurone der Mäuse mit funktionslosem Cacna2d3-Gen lag aber nicht daran, dass diese schwerhörig waren, denn in einer vorangegangenen Arbeit haben wir gezeigt, dass diese Mäuse normale Hörschwellen haben, die Cochlea also gut funktioniert“, erläutert Jutta Engel. Zusätzlich zu bekannten Parametern zur Beschreibung der Hörbahnfunktion entwickelte Gerhard Bracic neue Parameter, die die Antworten der Neurone auf amplitudenmodulierte Signale quantifizieren und die Defizite der Mäuse mit dem Gendefekt umfassender und damit besonders gut beschreiben.

Die neuen Erkenntnisse legen nahe, dass bei autistischen Patienten mit Funktionsausfall von Cacna2d3 ähnliche Verarbeitungsstörungen wie bei den genetisch veränderten Mäusen auftreten können. „Die Patienten sind zwar nicht im herkömmlichen Sinne taub, aber haben schwere zentrale Hörstörungen. Möglicherweise können einige Betroffene bestimmte Laute akustisch nicht auflösen und lernen daher die Sprache nicht. Hinzu kommt, dass vielen weniger schwer betroffenen Autisten die Fähigkeit fehlt, den emotionalen – affektiven – Gehalt von Sprache, unabhängig vom Wortsinn des Gesprochenen, zu erkennen“, erklärt Jutta Engel. Für das Verständnis dieser so genannten „affektiven Prosodie“ oder Sprachmelodie benötigt man aber wiederum eine sehr gut funktionierende Verarbeitung amplitudenmodulierter Signale, wie Hörforscher in den letzten Jahren herausgefunden haben.

Die interdisziplinäre Studie entstand aus der Kombination von neurowissenschaftlicher, physiologischer und Signalverarbeitungs-Expertise. Simone Kurt ist Spezialistin auf dem Gebiet der systemischen Neurowissenschaften und forscht seit vielen Jahren am Colliculus inferior und am auditorischen Cortex. Jutta Engel arbeitet seit langem an spannungsgesteuerten Calcium-Ionenkanälen in der Cochlea und im Gehirn.

Universität des Saarlandes

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