Das Gehirn verarbeitet schwache visuelle Reize morgens und abends besser als mittags. Das sicherte den Menschen früher einen Überlebensvorteil, denn in der Dämmerung lauerte die Gefahr.
FRANKFURT. In vorindustrieller Zeit war die Dämmerung für Menschen eine gefährliche Zeit, da sie dann nachtaktiven Raubtieren begegnen konnten. Wer trotz schwachem Licht noch etwas erkennen konnte, hatte einen evolutionären Vorteil. Wie Neurowissenschaftler der Goethe-Universität jetzt herausgefunden haben, bereitet sich das menschliche Gehirn auf die Dämmerung vor, indem es zu diesen Zeitpunkten die Ruheaktivität in der Sehrinde herunterfährt, damit schwache Sehreize nicht im Rauschen untergehen.
Der Wechsel von Tag und Nacht, hell und dunkel, bestimmt die Wahrnehmung mehr, als dem Menschen bewusst ist. Besonders relevant wirkt sich die Tageszeit auf die Qualität visueller Signale in der Umwelt aus. Das visuelle System hat sich im Laufe der Evolution optimal an die Beleuchtungsbedingungen am Tag angepasst. Doch auch für die Dämmerung hat es eine Strategie entwickelt: Offenbar erlaubt es die innere Uhr, diese Zeiten vorherzusehen und das visuelle System auf Zeiten schlechter Signalqualität vorzubereiten.
„Während das Uhrwerk der inneren Uhr bereits gut untersucht ist, war bisher nicht bekannt, mithilfe welchen Mechanismus die visuelle Wahrnehmung zu Zeiten erwartbar schlechter Signalqualität optimiert wird“, erklärt Privatdozent Dr. Christian Kell vom Brain Imaging Center der Goethe Universität. Sein Doktorand Lorenzo Cordani untersuchte deshalb in einer aufwändigen funktionellen Kernspintomographie-Studie an 14 gesunden Probanden, wie diese zu sechs verschiedenen Tageszeiten auf visuelle Reize reagierten.
Der Kerngedanke der Untersuchung bestand darin, die Wahrnehmung von sensorischen Signalen mit der Ruheaktivität des Gehirns ins Verhältnis zu setzen. Im Gehirn gibt es nämlich auch beim völligen Fehlen äußerer Reize ein gewisses „Grundrauschen“. Das internationale Team um Lorenzo Cordani, Joerg Stehle und Christian Kell konnte zeigen, dass der Körper die Ruheaktivität in den sensorischen Arealen während der Morgen- und Abenddämmerung selbständig herunterreguliert. Je mehr die Ruheaktivität reduziert war, desto besser konnten die Probanden in einer nachfolgenden Messung schwache visuelle Signale wahrnehmen.
Das bedeutet, dass Menschen schwache visuelle Reize zu Zeiten der Morgen- und Abenddämmerung besser als zu anderen Tageszeiten wahrnehmen können. Anders ausgedrückt: Während der Dämmerung verbessert sich in den sensorischen Hirnarealen das Signal zu Rauschen-Verhältnis. Da die Ruheaktivität zu Zeiten der Dämmerung nicht nur in visuellen, sondern auch in auditorischen und somatosensorischen Hirnregionen abnimmt, vermuten die Forscher, dass die Wahrnehmung nicht nur im visuellen System geschärft wird. In einer früheren Studie wurde bereits gezeigt, dass schwache Hörreize zu Zeiten der Dämmerung besser wahrgenommen werden. Der nun aufgedeckte Mechanismus, der in der aktuellen Ausgabe von Nature Communications publiziert wurde, könnte daher einen wesentlichen evolutionären Vorteil darstellen, der in vorindustriellen Zeiten das Überleben sicherte.
Goethe-Universität Frankfurt am Main