Oldenburg. EU-Spitzenförderung für eine junge Oldenburger Hörforscherin: Prof. Dr. Sarah Verhulst, Juniorprofessorin im Exzellenzcluster „Hearing4all“, erhält einen mit 1,5 Millionen Euro dotierten „Starting Grant“ des Europäischen Forschungsrats (ERC). Mit einer vergrößerten Arbeitsgruppe möchte Verhulst in den kommenden fünf Jahren eine Diagnose und Therapie auch für solche Hörschäden entwickeln, die durch Lärm hervorgerufen und bei bisherigen Hörtests nicht erkannt werden.
(Bild: Mithilfe von Elektroden kann Prof. Dr. Sarah Verhulst bei einer Testperson Hirnstammpotenziale messen, die als Antwort auf Schallwellen auftreten. Die Ergebnisse helfen ihr, eine besonders genaue Diagnose der Hörstörung zu stellen.)
Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. Hans Michael Piper beglückwünschte die 33-Jährige: „Mit einer Einzelförderung des ERC verbindet sich das höchste Prestige für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Europa – wir freuen wir uns mit Sarah Verhulst über diese Anerkennung ihrer herausragenden Forschung.“ Die Vizepräsidentin für Forschung und Transfer, Prof. Dr. Katharina Al-Shamery, ergänzte: „Ihre zukunftsweisende Arbeit steht zugleich beispielhaft für die exzellente interdisziplinäre Hörforschung an der Universität.“
In der interdisziplinären Arbeitsweise sieht Verhulst „den Schlüssel zum Erfolg“ ihres Projekts. „Das Ziel meiner Forschung ist klar, aber es ist ein komplexes Vorhaben“, so die Juniorprofessorin für Analyse und Modellierung des auditorischen Systems. Sie freue sich „dass die EU ebenfalls Hörschäden als drängendes medizinisches und gesellschaftliches Problem sieht, für das wir eine Lösung brauchen“.
Während Hörschäden mit zunehmendem Alter bekanntermaßen weit verbreitet sind, geht Verhulst aufgrund des immer lauteren städtisch geprägten Lebens und Lebensstils von einer wachsenden Zahl bislang unerkannter Hörschäden auch bei jüngeren Menschen aus. In der Forschung ist von „hidden hearing loss“ die Rede, von einem „heimlichen Hörverlust“: Dieser beruht auf beschädigten Synapsen in der Cochlea (Hörschnecke) und ist bei Tieren bereits physiologisch nachgewiesen. Die sogenannte „Cochlear Neuropathy“ auch bei Menschen zu diagnostizieren, zu behandeln und ihr möglicherweise auch langfristig besser vorbeugen zu können, ist Ziel von Verhulsts Forschungsvorhaben „RobSpear: Robust Speech Encoding in Impaired Hearing“ (verlässliches Sprachverständnis bei vermindertem Hörvermögen). Für ihre Arbeitsgruppe wird sie je zwei DoktorandInnen und PostdoktorandInnen neu einstellen können.
Im Fokus des Projekts stehen unter anderem die sogenannten Haarsinneszellen im Innenohr und die damit verbundenen Synapsen des Hörnervs. „Im menschlichen Innenohr befinden sich ungefähr 3.000 innere Haarzellen, und mit jeder von ihnen sind 30 Synapsen verbunden – von denen jede bestimmte Aspekte eines Klangs kodiert“, erläutert Verhulst. „Erst die Vielzahl an Kodier-Kanälen, die unabhängig voneinander dieselbe Information ans Gehirn übermitteln, macht unser Hören auch in einer lauten Umgebung verlässlich.“ Bei der „Cochlear Neuropathy“ hingegen verlören die inneren Haarsinneszellen allmählich einen Teil der verbundenen Synapsen. Die Folge: Das Sprachverständnis der Betroffenen dürfte vor allem bei Lärm abnehmen – ohne dass sich dies bislang diagnostizieren ließe, da die Haarsinneszellen als solche ja intakt blieben. Menschen mit ersten Zeichen von Hörproblemen könnten – unerkannt – eine „Cochlear Neuropathy“ haben. Diese Hörminderung dürfte laut Verhulst auch neben regelmäßig diagnostizierten Hörschäden wie einem Verlust von sogenannten äußeren Haarsinneszellen auftreten und möglicherweise mit ein Grund dafür sein, wenn eine Hörhilfe das Hörproblem nicht vollständig ausgleichen könne.
Um künftig eine verlässliche Diagnose zu ermöglichen, will Verhulst mit ihrem Team auf unterschiedliche Methoden zurückgreifen, um unter anderem aus gemessenen Hirnstammpotenzialen auf die Synapsen des Hörnervs zu schließen. Kombinieren wollen sie dies mit der Messung sogenannter otoakustischer Emissionen, also vom Ohr ausgesandter Schallwellen, sowie mit Computermodellen. „Wir müssen einen Weg finden, den Klang so zu verändern, dass die Patienten mit den jeweils verbliebenen Synapsen das individuell bestmögliche Hörergebnis erzielen können“, betont Verhulst. Dazu will sie in ihrem künftigen Team die Expertise aus Ingenieurs- und Neurowissenschaften, Signalverarbeitung und Modellierung zusammenbringen.
Verhulst ist seit zwei Jahren Juniorprofessorin der Fakultät VI Medizin und Gesundheitswissenschaften und Leiterin der Arbeitsgruppe „Psychoakustik, Modellierung und Evaluation“ im Exzellenzcluster „Hearing4all“. Zuvor war sie Postdoktorandin an der Boston University und Research Fellow an der Harvard Medical School. Die aus Belgien stammende Wissenschaftlerin studierte Elektrotechnik im belgischen Leuven und akustische Ingenieurswissenschaften an der Technischen Universität Dänemark, wo sie auch promovierte.
Quelle/Bild: hearing4all