Erstautorin Dr. Nare KaragulyanKalziumkanal im Ohr: Wie ein winziger Fehler das Hören beeinflusst

Forschende der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und des Göttinger Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging“ (MBExC) zeigen, wie die minimale Veränderung eines einzelnen Ionenkanals die Empfindlichkeit der Sinneszellen im Innenohr erhöht. Bereits leise Geräusche wie ein Flüstern werden besser wahrgenommen, verursachen aber eine anhaltende Überlastung, die langfristig den Verlust des Gehörs begünstigen kann. Diese Erkenntnisse vertiefen das Verständnis dafür, wie Schallinformationen im Ohr verarbeitet werden. Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Science Advances“ erschienen.
Bild: Erstautorin Dr. Nare Karagulyan, Postdoktorandin am Institut für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und Mitglied des Hertha Sponer Colleges am Göttinger Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging" (MBExC). Copyright: UMG/Swen Pförtner

Haarsinneszellen übernehmen im Innenohr die Umwandlung von Schall in elektrische Signale. Trifft ein Geräusch im Innenohr auf die Haarsinneszellen, geraten diese je nach Intensität des Schalls in Schwingung: leises Flüstern führt zu einer leichten Schwingung, je lauter der Ton, desto heftiger die Schwingungen. Durch diese Bewegung erfolgt eine Spannungsänderung in der Haarsinneszelle, die letztlich zur Öffnung von Kanälen in der Membran führt, durch die Kalzium in das Zellinnere strömt. Dieser Kalziumeinstrom führt zu der Freisetzung eines Botenstoffs an den Kontaktstellen zwischen Haarsinnes- und Hörnervenzellen, den sogenannten Synapsen, der die nachgeschalteten Hörnervenzellen aktiviert. Das elektrische Signal wird über die Hörbahn an das Gehirn weitergeleitet, wo der Schall als Ton oder Geräusch wahrgenommen wird.

Bei der Signalübertragung von Haarsinneszellen auf Hörnervenzellen spielen Kalziumkanäle des Typs CaV1.3 eine entscheidende Rolle. Sie reagieren sehr empfindlich auf Spannungs-änderungen in der Zelle, die sich durch das eintreffende Schallsignal ergeben. Der Funktionsverlust dieser Kanäle kann zu Beeinträchtigungen führen, die von Hörproblemen bis hin zur Taubheit reichen. Mögliche Ursachen für diesen Funktionsverlust können minimale Veränderungen im Erbgut sein, wodurch es zu einer fehlerhaften Bildung des Kanals kommt.

Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und Sprecher des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC), hat nun den Einfluss eines genetisch veränderten CaV1.3-Kanals, kurz CaVAG, auf die Schallverarbeitung zwischen Haarsinneszellen und Hörnervenzellen im Tiermodell untersucht. Die CaVAG-Variante basiert auf einer winzigen Veränderung im Bauplan des Kalziumkanals, weist aber im Vergleich zu dem intakten Kanal eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Spannungsänderungen in der Haarsinneszelle auf. Das bedeutet, dass der CaVAG-Kalziumkanal eine niedrigere Aktivierungsschwelle hat und sich auf den gleichen Reiz viel eher öffnet als ein intakter Kanal. Die CaVAG-Variante des CaV1.3-Kanals ist auch bereits beim Menschen beschrieben und wird mit einem erhöhten Risiko für Autismus-Spektrums-Störungen bei Kindern in Zusammenhang gebracht.

Die Göttinger Forschenden und ihre Kooperationspartner*innen vom Shanghai Institute of Precision Medicine in China und von der Universität Innsbruck, Österreich, konnten erstmals zeigen, dass die erhöhte Empfindlichkeit der CaVAG-Kalziumkanäle in den Haarsinneszellen die Aktivierung der nachgeschalteten Hörnervenzellen direkt beeinflusst und deren Antwortverhalten auf Schallsignale steuert. Durch die höhere Empfindlichkeit der CaVAG-Kalziumkanäle gegenüber den Spannungsänderungen der Haarsinneszellen wird somit auch die Reizschwelle der Hörnervenzellen herabgesetzt, die die Geräuschinformation an das Gehirn weiterleiten. Dies beeinflusst auch die spontane Aktivität der Hörnervenzellen, die nun auch ganz ohne Schallreiz, bei völliger Stille, aktiver sind als normal.

„Die erhöhte Empfindlichkeit der CaVAG-Variante des Kalziumkanals hilft zwar kurzfristig, leise Töne besser wahrzunehmen, aber im Tiermodell zeigte sich, dass einige Kontaktstellen zwischen Haarsinnes- und Hörnervenzellen langfristig ihre Struktur verlieren – und zwar ganz ohne laute Musik oder sonstige Lärmeinwirkung. Allein der ‚normale’ Geräuschpegel im Tierhaus reicht dafür offenbar aus. Es sieht so aus, als würde der durch die genetische Veränderung verursachte überaktive Kalziumeinstrom das System überlasten“, sagt Prof. Moser, Letztautor der Studie. „Wir könnten hier auf molekularer Ebene eine neue Form der schleichenden Hörschädigung sehen – eine Art versteckten Hörverlust, den man mit normalen Hörtests aktuell gar nicht erfassen kann.“

Was bedeutet das für den Menschen?
Über das Hörvermögen der Betroffenen, die den Kalziumkanal in der CaVAG-Variante tragen, weiß man kaum etwas, da die Schwere der Erkrankung eine Untersuchung nahezu unmöglich macht. Die neuen Erkenntnisse legen nahe, dass solche Menschen vermutlich besonders empfindlich hören und gleichzeitig sehr anfällig für Lärmschäden sind. Die Studie legt daher nahe, Betroffene audiologisch langfristig zu begleiten – und auch über einen vorbeugenden Gehörschutz bei alltäglichem Lärm nachzudenken.


Quelle: Universitätsmedizin Göttingen - Georg-August-Universität
Originalpublikation:
Karagulyan N, Thirumalai A, Michanski S, Qi Y, Fang Q, Wang H, Ortner NJ, Striessnig J, Strenzke N, Wichmann C, Hua Y, Moser T. Gating of hair cell Ca2+ channels governs the activity of cochlear neurons. Science Advances (2025). DOI: 10.1126/sciadv.adu7898

 

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