Eine Hörbehinderung ist für Außenstehende kaum erkennbar. Betroffene stehen daher jeden Tag vor der Entscheidung: über die Hörbehinderung reden oder nicht?
Hörbehinderte tragen eine besondere Last. Denn diese Einschränkung mit all ihren Facetten ist für Außenstehende kaum erkennbar. Sie ist unsichtbar. Die Betroffenen stehen daher jeden Tag vor Entscheidungen wie diesen: Zeige ich mich oder passe ich mich an? Nicke ich, lächle ich, täusche ich? Mache ich Pause? Frage ich nach? Auch ein zweites und drittes Mal? Möchte ich stören? Oder dazugehören? Auffallen oder nicht?
Eine paradoxe Position
Wolfgang Wirth, ein deutscher Psychotherapeut, schreibt dazu folgendes: Menschen mit einer Hörbehinderung stehen „…immer wieder am Wendepunkt zwischen sozialer Zugehörigkeit bei vorgetäuschter sozialer Anpassung, der Verstecktaktik, und dem Bedürfnis funktionierender Kommunikation andererseits.“ Ein Paradox: Die Hörbehinderten gehören dazu, wenn ihr Verhalten dem aller anderen gleicht. Sie keine endlosen Nachfragen und keine extravaganten Ansprüche stellen. Wenn sie sich verstecken. Was allerdings langfristig zu Lasten echter und tiefergehender Beziehungen geht. Denn in dem Moment, wo sich ein Mensch mit Hörbehinderung outet oder seine Beeinträchtigung in anderer Form deutlich macht, verliert er möglicherweise die äußere soziale Zugehörigkeit und wird zum Behinderten, zum Anderen oder zum Fremden.
Hörbehinderung wird in der gegenwärtigen Gesellschaft gleich mehrfach stigmatisiert: Sie wird nicht nur als Behinderung als solche wahrgenommen, sondern auch als Makel in der Leistungsfähigkeit, als Attribut des Alters, als Begriffsstutzigkeit. Sehr viele negative Zuschreibungen, welche von betroffenen und nichtbetroffenen Menschen deshalb nur schwer akzeptiert und integriert werden können. Denn diese widersprechen dem tiefsitzenden Bedürfnis aller Menschen, normal sein zu wollen und dazu zu gehören.
Outen nach Maß
Wie lässt sich diese Situation lösen? Zunächst einmal lassen sich wenig Alternativen zum Aufklären und Darüber-Sprechen finden. Denn erst, wenn Hörbehinderte ihre Bedürfnisse ernst nehmen und diese formulieren, können andere Menschen Rücksicht darauf nehmen. Das heißt, es braucht eine gewisse Akzeptanz der eigenen Höreinschränkung wie auch ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein, um diese öffentlich zu machen.
Bedürfnisse ausdrücken können. Klar und deutlich formulieren, was benötigt wird, damit Kommunikation gelingt. Dafür reicht ein kurzer Satz. Je nachdem, was für den Betroffenen selbst am zentralsten ist. „Das habe ich nicht verstanden. Können Sie das bitte wiederholen?“ oder „Können Sie mich anschauen?“ sind beispielsweise zwei Sätze, die nicht nur deutlich machen, was gebraucht wird, damit ein Verstehen gegeben ist, sondern auch, dass der Hörbehinderte am Austausch mit den Gesprächspartnern interessiert ist.
Diese Sätze können gern vorbereitet und zurechtgelegt sein. Ohnehin stehen für jeden Betroffenen andere Aspekte im Vordergrund. Für die einen ist es eine gewisse Minimallautstärke, für andere der Blickkontakt und das Mundbild, für wieder andere der Umgebungslärm. So sind diese Sätze im Laufe der Zeit häufig dieselben und werden zunehmend vertrauter.
Aber nicht für jede Situation empfiehlt sich das gleiche Vorgehen: An einem neuen Arbeitsplatz ist es ratsam, bei einer Sitzung oder einem Meeting die Kollegen etwas ausführlicher über die eigene Situation wie auch die Grenzen und Unterstützungsmöglichkeiten aufzuklären. Dies, weil mit den neuen Kollegen viel Zeit verbracht wird und um die Qualität der Arbeit nicht zu gefährden. Am Eisstand im Sommer hingegen braucht es eventuell gar keine Information über den eigenen Hörverlust. Selbst wenn zum dritten Mal der zu bezahlende Preis erfragt werden muss. Unumgänglicher scheint hingegen der Hinweis beim Coiffeur, schon weil dort die Hörhilfen vielfach abgelegt werden müssen und somit die Höreinbuße noch deutlicher in den Vordergrund tritt. Ebenso im Flugzeug, um den Sicherheitsbestimmungen nachzukommen.
In den allermeisten Fällen jedoch obliegt es dem oder der Betroffenen, ob, wie und in welcher Tiefe sie über ihre Höreinschränkung aufklären. Ganz allgemein empfiehlt sich ein Hinweis auf die eigene Hörbehinderung an allen Orten und Plätzen, die häufig aufgesucht werden. Dies hat auch den Vorteil, dass mit steigender Vertrautheit an diese Umgebungen, das Offenbaren der Hörbehinderung nicht nur weniger schwer fällt, sondern auch zunehmend weniger nötig wird.
Nicht zuletzt helfen auch eine Portion Gelassenheit und Humor. Denn allzu oft trägt der Anspruch, alles verstehen zu wollen, dazu bei, dass dies noch weniger geschieht. Auch einmal nicht verstehen zu müssen, sich einmal zurücklehnen zu dürfen, sich ganz „bewusst zu verstecken“ oder Hörpausen einzulegen. All das trägt zu einer entspannteren Grundhaltung bei. Missverständnisse werden immer wieder passieren. Diese akzeptieren zu können, dabei allenfalls auch einmal über sich selbst lachen…und ein weiteres Stück Lebensqualität stellt sich ein.
Stark ist der, der Schwäche zeigt. Wenn es einem Menschen mit Hörbehinderung gelingt, zu sich und seinem Handicap zu stehen, wird dies beinahe immer respektiert. Nur selten habe ich es in meiner Arbeit mit Hörbehinderten erlebt, dass negative Reaktionen der Mitmenschen erfolgten, wenn Hörbehinderte für sich Partei ergriffen. Vielmehr hörte ich häufig von interessanten und ganz besonders intensiven Begegnungen, welche sich an solch mutige Offenbarungen von Hörbehinderten anschlossen. Dann ist die Hörbehinderung auch nicht mehr länger unsichtbar und mysteriös, sondern eine ganz besondere Eigenschaft, welche einfach besondere Massnahmen erfordert.
Text: Silvio Zgraggen, Dipl. Psychologe
Quelle: „pro audito schweiz, Autor: Silvio Zgraggen, Dipl. Psychologe"