In der Praxis der HNO-Spezialistin schmückten Plakate von Querschnitten des Innenohrs mit ihren Rot- und Blautönen den Raum. Das Außenohr war in einem gewöhnlichen Rosa dargestellt, während das zuerst sandgelbe, karminrote und beige-rosafarbene Innenohr in ein blaues Labyrinth mündete. Das war die Cochlea. Sie ähnelte einer Weinbergschnecke, die zu lange gegart worden war.
Zitat aus Quallen haben keine Ohren
Mit ihrem Debütroman dringt die Autorin Adèle Rosenfeld, Jahrgang 1986, in die mögliche Gefühlswelt von Cochlea Implantat Kandidaten ein.
Bild: Buchcover Quallen haben keine Ohren ISBN 9783518431351, Suhrkamp
Im Original erschien das Buch 2022. Ihr Roman schaffte es auf die Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde mit dem Prix Fénéon ausgezeichnet. Adèle Rosenfeld lebt in Paris. Die deutsche Übersetzung übernahm Nicola Denis.
Adèle Rosenfeld ist, wie ihre Romanfigur von Geburt an schwerhörig und hat einen Gehörverlust erlitten, der die Frage nach einem Implantat aufwarf. Wahrscheinlich ist es ihr deshalb möglich, so authentisch zu beschreiben, wie sich das Leben und der Alltag verändern, wenn man langsam sein Gehör verliert. Daher ist der Roman auch ein wenig autobiografisch. Allerdings hat sich die Autorin (noch) nicht für ein CI entschieden.
Adèle Rosenfeld erzählt von Louise in Ich-Form. Louise befindet sich seit ihrer Kindheit in einer Zwischenwelt.
In ihr rechtes Ohr dringen noch ein paar Töne, links herrscht Stille. Im Hellen kann Louise die Lippen der Menschen lesen. Wird es dunkler oder sind Gesichter abgewandt, driftet sie ab in einen Zustand zwischen Imagination und Realität, in einen Raum der unendlichen Möglichkeiten. Dann beginnt sie, die Hörlücken mit ihrer Fantasie zu füllen, die bevölkert ist von drei fiktiven Figuren: einem Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, einem Hund namens Zirrus sowie einer launischen Botanikerin, die Louise während der langen Monate des Nachdenkens und Zweifelns begleiten. Denn Louise steht vor einem radikalen Schritt: Ihr Gehör schwindet nach und nach, und die Ärzte raten ihr, ihr verbleibendes natürliches Gehör durch ein Cochlea-Implantat zu ersetzen. Um sich der Entscheidung zu entziehen, flüchtet sich Louise immer mehr in ihre Traumwelt, die ständig mit den großen Veränderungen in ihrem Leben kollidiert – einer beginnenden Liebesbeziehung, dem ersten Job bei der Stadtverwaltung, einer zerbrechenden Freundschaft. Doch die Zeit drängt, und Louise muss ihre Entscheidung treffen.
Die Autorin beschreibt eindrucksvoll die Folgen des Hörverlustes. In poetischen und fantasievollen Beschreibungen vermittelt sie die Verständigungsprobleme, die Schwierigkeiten bei der Arbeit, den Verlust von sozialen Kontakten. Louise flüchtet in ihre eigene Fantasiewelt, bestückt mit imaginären Figuren.
Überzeugend stellt sie das Lippenabsehen bei Licht und das nicht Lippen sehen können bei Dunkelheit und das damit verbundene Verstehen oder nicht Verstehen dar.
Louise stellt fest, dass sie nicht mehr zur Welt der Hörenden gehört, aber auch nicht in die Welt der Gehörlosen, die sie als lautsprachlich und damit als Abtrünnige sehen. Sie befindet sich verloren in einer Zwischenwelt.
In vielen Romanabschnitten werden Schwerhörige, CI Kandidaten und schon Implantierte ihre Ängste und Gefühle wiederfinden. . Angehörige und Freunde von Betroffenen dürften einiges lernen.
Trotzdem ist das Buch keine Dokumentation oder ein Erlebnisbericht, sondern ein sprachlich kraftvoller und fantasiereicher Roman.
Ein Buch das nicht nur für Schwerhörige und CI Kandidaten interessant ist.
Ich empfehle dieses Buch.
Peter Hölterhoff
Adèle Rosenfeld
Quallen haben keine Ohren
Übersetzung: Nicola Denis
Fester Einband, 221 Seiten, ISBN 978-3-518-43135-1, Suhrkamp